Bricks In The Wall - Kapitel 8
Nov. 1st, 2009 10:45 pm![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
Titel: Bricks In The Wall
Fandom: Harry Potter
Genre: Drama
Rating: ab 16 Jahren
Charaktere: Severus Snape; Lily Evans; Rumtreiber; Evan Rosier; Avery; Lucius Malfoy
Inhalt Die Geschichte des Prinzen. Canon!
Begegnungen im Angesicht eines schlechten Schicksals
~
Das Böse bringt die Menschen zusammen.
(Aristoteles)
~
Es war eine spontane Entscheidung gewesen, seine Klassenkameraden über Weihnachten zu begleiten; getroffen in der Verwirrung nach der Nacht im Tunnel und unter dem Einfluss von Francis Averys tröstenden Worten. Das Gespräch mit Lily hatte sein Übriges getan.
Denn eigentlich hatte sich Severus zu dem Zeitpunkt, an dem Lily ihn am See getroffen hatte, noch gar nicht entschieden gehabt. In Wirklichkeit hatte Avery ihm zwar das Angebot gemacht, doch Severus hatte nie ernsthaft in Erwägung gezogen es auch anzunehmen. Das erschien ihm zu diesem Zeitpunkt als verfrüht und nicht angebracht. Er hatte es eher als ein weitere Zeichen dafür verbucht, dass er auf dem besten Wege war endlich von seinen Mitschülern akzeptiert zu werden. Außerdem hatte Avery zwar aufrecht geklungen, als er ihm das Angebot gemacht hatte, Severus war sich jedoch ziemlich sicher gewesen, dass der ältere Junge es nur gesagt hatte, weil er niemals davon ausging, dass Severus tatsächlich einwilligen würde.
Genau das hatte dieser, kaum drei Stunde später, jedoch getan. Ohne auch nur noch eine Sekunde darüber nachzudenken war Severus, nach dem kleinen Intermezzo am See, schnurstracks zurück in die Gemeinschaftsräume der Slytherins gegangen, gestürmt war vielleicht das bessere Wort, in welchen Avery zusammen mit Rosier und noch ein paar anderen Schülern aus den oberen Stufen am Feuer saßen. Wäre er nicht zufälligerweise anwesend gewesen, hätte Severus zwar nach ihm gesucht und auf ihn gewartet, doch die Endgültigkeit seines Entschlusses hätte gehörige Risse bekommen. Dann säße er jetzt vielleicht mit Lily zusammen über dicken, staubigen Büchern und Pergamentrollen gebeugt in der Bibliothek oder würde die Nase tief in einen dampfenden Kessle hängen, anstatt in einer protzigen Kutsche mit einem abwesenden Avery und einem ziemlich miesepetrigen Marmaduke Mulciber einem unbekannten Ziel entgegen zu holpern.
Mit von der Partie war außerdem Jonathan Wilkes, der schon beunruhigen lange Zeit den Eindruck vermittelte, als müsse er ziemlich dringend mal wohin. Er saß direkt neben Severus, was diesen dazu veranlasste seinen Reisegefährten genau im Auge zu behalten um, falls sich auch nur die kleinste Regung in Richtung Verlegenheit oder Scham auf dessen Gesicht abzeichnen würde, sich rechtzeitig aus der Gefahrenzone bringen zu können. Außerdem tastete er regelmäßig, wenn auch möglichst unauffällig, die Sitzpolster neben sich nach verräterischen nass-warmen Spuren ab.
Ans andere Ende ihrer Seite saß Edwin Jugson. Er hatte die Füße auf die Polster gestellt, die Beine nahe an den Körper gezogen und seine Arme darum geschlungen. Seine Stirn ruhte auf seinen Knien. Severus nahm an, dass er schlief.
Genau wie Marmaduke Mulciber. Dieser lag schon mehr auf seinem Sitz, als dass er saß. Er hatte den Kopf an das Fenster gelegt, wobei es ihn nicht im Mindesten zu stören schien, dass er dadurch gehörig durchgeschüttelt wurde. Sein Mund stand leicht offen. Zum Glück schnarchte er nicht.
Avery saß Severus gegenüber. Er sah jedoch die ganze Zeit abwesend aus dem Fenster und schien seine Mitreisenden überhaupt nicht wahrzunehmen. Oder wahrnehmen zu wollen.
Fehlte Evan Rosier. Dieser hatte zwischen Mulciber und Avery Platz genommen. Im Gegensatz zu den beiden anderen ließ er Severus nicht aus den Augen. Wenn ihre Blicke sich trafen, was nicht oft geschah, da Severus dies mit aller Kraft zu vermeiden versuchte, schien pure Mordlust in Rosiers Augen aufzublitzen.
Jegliche Farbe war aus dem Gesicht des älteren Slytherins gewichen, als Severus ihnen mitgeteilt hatte, dass er sie begleiten würde. Seit dem hatte Severus Angst vor seinem Mitschüler sich verdoppelt, wenn nicht sogar vervierfacht. Er war sich in der ersten Nacht sicher gewesen, dass er die anderen, wenn überhaupt, zerstückelt und zerschreddert in eine kleine Schachtel gestopft, begleiten würde.
Nichts von all dem war geschehen. Severus Snape, Halbblut und Slytherin erfreute sich bester Gesundheit und war im Begriff sein erstes Weihnachten außerhalb seines Elternhauses und außerhalb Hogwarts zu feiern. Wäre Severus ein romantisches Kind, hätte er vielleicht darüber nachgedacht das dies einer der Schritte auf dem Weg zu einem Erwachsenen, einem eigenständigen Individuum, sein kann.
Vielleicht dachte er auch nicht darüber nach, weil ihm ein völlig anderes Problem seit geschätzten zwölf Kilometern Magenschmerzen bereitete. Severus hatte nämlich ganz vergessen zu fragen bei wem sie die Tage eigentlich verbringen würden. Er wusste nur, dass es ein größeres Fest werden würde; eine Tatsache, die er noch verdrängte. Weder seine Garderobe und seiner Meinung nach besonders sein Äußeres waren dazu geeignet, sich vor mehreren, höchstwahrscheinlich älteren, vor allem jedoch fremden, um nicht zu vergessen durch und durch reinblütigen und adligen Zauberern zu präsentieren.
Als die Kutsche dann endlich eine kiesbedeckte Einfahrt hochkroch und er endlich seine durchgeschüttelten Glieder ausstrecken konnte, war er einfach erst einmal zu froh überhaupt irgendwo angekommen zu sein und wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Es störte ihn nicht einmal, dass Rosier ihn beim Aussteigen heftig anrempelte.
Wildes Hundegebell und Jugson, der sich unter herzhaftem Gähnen eine Tasse Tee wünschte, veranlasste Severus dazu sich umzusehen.
Müde von der Fahrt verschwamm sein Blick leicht vor seinen Augen. Das grau des Steins mischte sich mit dem grau des Winterhimmels und für eine Handvoll Herzschläge war Severus davon überzeugt, dass das Haus vor ihm kein Dach hatte, sondern sich bis ins Unendliche hinaus ins Grau erstreckte.
Ganz so war es natürlich nicht, aber es war, abgesehen von Hogwarts, das größte Haus, dass Severus Snape je in seinem Leben gesehen hatte. Definitiv war es das größte Wohnhaus, dass er je gesehen hatte und, so vermutete er mit leise aufsteigendem Neid im Herzen, jemals sehen würde. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um den Dachgiebel erkennen zu können. Viel Zeit zur Begutachtung blieb ihm nicht. Es war kalt, die anderen drängten ins Innere und zogen ihn mit sich. Aber bevor er sich ganz abwandte und seine Aufmerksamkeit auf die Doppeltür lenkte, aus dem nun der Kopf eines Hauself lugte, sah er deutlich eine Gestalt an einem der oberen Fenster stehen. Als er noch einmal hinsah, um sich zu vergewissern, war sie jedoch schon wieder verschwunden.
Noch während sich das Eingangsportal hinter der kleinen Schülergruppe schloss hörte Severus draußen in der Ferne ein dunkles Grollen. Es war später Nachmittag, der Horizont färbte sich durch das heranziehende Gewitter schwarz. Die Eingangshalle lag schon jetzt in düsterem Halbschatten und obwohl Severus im Zwielicht an den Wänden einige Kerzenleuchter ausmachen konnte brannte nirgendwo Licht. Überraschenderweise war es angenehm warm. Blinzelnd versuchte er ein paar Umrisse seiner Umgebung auszumachen, als ihn plötzlich etwas heftig in die Seite stieß. Gerade als er protestieren wollte fing er Jugsons Blick auf. Dieser zeigte an Severus vorbei tiefer in den Schatten hinein. Severus drehte sich herum. Er konnte nun das Ende einer Treppe ausmachen, auf welcher eine große, in dunkle Roben gekleidete Gestalt erschienen war.
"Die jungen Mister Avery, Mister Rosier, Mister Jugson, Mister Mulciber und Mister Wilkes sind eingetroffen, Master Malfoy Sir." Eine, nach Severus Befinden etwas zu groß geratene, Hauselfe war vor der kleinen Gruppe erschienen. Ihre spitzen Ohren zitterten beim Reden, außerdem sprach sie ungewöhnlich laut.
'Malfoy Manor', schoss es Severus durch den Kopf. 'Wer hätte das gedacht, dass ich hier einmal zu Besuch sein werde.' In seiner Nervosität mischte sich zaghafte, aber dennoch wohltuende Erleichterung. Wenn er sich gerade tatsächlich auf Malfoy Manor befand, dann bedeutete es, dass auch Lucius Malfoy anwesend sein würde. Immerhin eine Person mehr, die Severus kannte und mochte. Auch wenn ein böses Stimmchen ihn fragte, warum sich jemand wie Lucius noch an einen mageren Zweitklässler erinnern sollte. Den er drei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Der noch dazu ein Halbblut war. 'Halt die Klappe', schalt er sich selbst und die Stimme verstummte.
Seine Mitschüler wünschten dem Hausherrn brav einen guten Abend, einer nach dem anderen. In Gedanken versunken hinkte Severus ein wenig hinterher und nuschelte hastig ebenfalls irgend etwas Begrüßendes. Der Hausherr, es musste sich um Lucius' Vater handeln, der gerade im Begriff gewesen war die verbleibenden Stufen hinab zu steigen, hielt inne. In der rechten Hand hielt er eine Art Gehstock mit silbernem Knauf. Das Ende schwebte verharrend in der Luft. Severus spürte, wie der Hausherr ihn anstarrte, als warte er auf eine Erklärung. Francis Avery trat vor.
"Das ist Severus Snape, Sir. Er ist im fünften Jahrgang, ein Slytherin. Ich … habe mir die Freiheit erlaubt ihn ebenfalls einzuladen, Sir. " Er senkte demütig den Kopf.
Mr Malfoy hielt noch einige Herzschläge lang inne, dann senkte sich der Fuß seines Stockes auf die nächste Treppenstufe. "Snape?", fragte er.
Avery warf Severus einen kurzen Seitenblick zu und Severus ahnte, was nun kam. Sein Körper versteifte sich.
"Seine Mutter ist Eileen Prince", sagte Avery.
Severus stieg das Blut ins Gesicht. Der Hausherr jedoch nahm diese Information kommentarlos auf. Ohne einen aus der Gruppe noch einmal anzusehen setzte er endlich seinen Stock auf die unterste Stufe, betrat den Hallenboden und schritt an ihnen vorbei, den Gehstock lauernd über dem Boden pendelnd, auf eine breite Flügeltür zu, welche sich lautlos öffnete und ihren Herren mit herausdrängender, tiefer Dunkelheit verschlang.
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"Wer heiratet?"
Zwei Stunden später hatten sich alle in Rosiers Zimmer versammelt. Jeder einzelne hatte seinen eigenen Raum bekommen, nur das Bad mussten sie sich teilen. Es lag am Ende des Flurs. Avery stand am Fenster, Rosier, Jugson und Mulciber lümmelten auf dem Bett. Wilkes saß am Fußende und Severus hatte sich, nachdem er mehrere Minuten unschlüssig und regungslos wie eine Statue mitten im Zimmer gestanden hatte, in einen dunkelroten Sessel gesetzt. Auf die Kante, mit geradem Rücken und fest aufgestellten Beinen.
Alle hatten sie bereits ihre Sachen verstaut und die Zimmer erkundet. Severus war als erster damit fertig gewesen. Er hatte eine Stunde lang auf dem viel zu großen Bett gesessen und sich vor lauter Angst etwas von dem teuren Interieur zu beschmutzen oder gar kaputt zu machen kaum zu rühren gewagt. Johnathan hatte bei ihm geklopft und ihn mit zu Evan geschleppt.
"Wer heiratet?", fragte Jugson erneut.
"Bellatrix Black und Rodolphus Lestrange." Evan Rosier schob sich ein Kissen unter den Kopf.
"So? Ich wusste gar nicht, dass die beiden sich so mögen. In der Schule hatten sie doch nicht wirklich etwas mit einander zu tun. Zumindest nicht so. Also auf der ich-will-dich-später-mal-heiraten- Ebene."
"Seit wann geht's beim Heiraten denn ums mögen?" Rosier grinste schief.
"Mein Dad sagt, sie soll möglichst früh werfen können. Wenn schon der Name ausstirbt, dann sollen doch wenigstens die Gene erhalten bleiben", mischte Johnathan sich nun ein. Daraufhin herrschte einige Zeit Stille.
"Kapier ich nicht", brummte Mulciber.
"Na, außer Regulus haben die Blacks doch nur Mädchen. Von diesem Idioten in Gryffindor mal abgesehen, aber der gehört ja schon seit Jahren nicht mehr zur Familie."
"Kann sie denn schon werfen?", fragte Wilkes.
Evan verdrehte die Augen. "Klar kann sie. Sie ist 20. Meine Mum war 17, als sie mich bekommen hat, 17 einhalb."
"Da hätte deine Mum sich lieber noch etwas Zeit gelassen, was? Autsch!" Rosier hatte Mulciber eines der Zierkissen ins Gesicht geschleudert. Bei der darauf folgenden Kabbelei auf dem Bett zog sich Severus weiter in seinen Sessel zurück. Die Kissenschlacht rückte in seiner Wahrnehmung bald in den Hintergrund. Nachdenklich betrachtete er Francis' Rücken. Der andere Junge hatte sich wieder einmal ausgeklinkt und starrte in die Nacht hinaus. Draußen grollte weiterhin der Donner, doch das Gewitter schien vorüber zu ziehen.
"Ich glaube, es gibt bald Abendessen. Die Hauselfen sind die besten hier. Du wirst das Essen lieben", sagte er plötzlich. Severus war sich im ersten Moment unsicher, zu wem er sprach.
"Ja", sagte Francis und wandte sich von den Regenschlieren ab. Er betrachtete nachdenklich Severus Gesicht.
"Ja, was?", fragte dieser verwirrt.
"Abraxas Malfoy ist blind."
"Wieso ..?"
Avery schmunzelte. "Das wolltest du mich doch fragen."
Severus starrte ihn an. "Schon", sagte er, nach einer gefühlten Ewigkeit. "Warum?", setzte er nach einer weiteren Denkpause hinzu und kam sich ziemlich dämlich dabei vor. Er konnte nicht feststellen, ob Averys Lächeln nachsichtig war, oder ob der andere sich gerade über ihn lustig machte.
"Warum, was?", fragte Avery oder äffte er ihn nach?
"Warum ist er blind?", wiederholte Severus.
Avery nickte. "Gute Frage", sagte er und winkte Rosier zu sich heran. Dieser schob sich gerade einen Kürbiskernkeks in den Mund. Er grinste breit.
"Evan, Severus möchte gerne wissen, warum Abraxas Malfoy blind ist."
Rosier kaute genüsslich seinen Keks zu Ende und grinste dabei Severus die ganze Zeit an. Während er schluckte hob er die Hand, klemmte den kleinen Finger und den Ringfinger mit dem Daumen auf die Handinnenfläche und spreizte den Zeigefinger und den Mittelfinger weit ab, sodass sie ein V bildeten.
"Ein hoch auf die Inzucht", strahlte er.
Severus starrte die beiden an. "Wie bitte?"
Avery lachte. "Ein Hoch auf die Inzucht", bestätigte er. "Die verdammte, beschissene Inzucht."
"Verdammtes Inzuchtpack", kam es von Mulciber auf dem Bett.
Auch Wilkes und Jugson grinsten nun, als hätte jemand einen besonders guten Witz gemacht.
Severus fühlte sich verarscht. Er presste die Lippen zusammen und sah vor sich auf den Boden. Wenn sie ihn nur mitgenommen hatten, um sich über ihn lustig zu machen …
"Entschuldige", Avery wurde wieder ernst. "Reinblütiger Galgenhumor, bitte entschuldige."
Severus blickte ihn zornig an. "Schon gut", fauchte er. "Ich weiß, dass ich ein Halbblut bin. Ich weiß, dass ich nicht dazu gehöre. Ich habe keine Ahnung, von euren Scherzen." Er wandte sich zum Gehen.
Francis trat ihm in den Weg. Er schien ehrlich bestürzt.
"So war es nicht gemeint."
Auch Eddie Jugson sprang nun auf. "Wir wollten uns nicht lustig machen. Das heißt, schon … aber nicht über dich!", setzte er hastig hinzu.
"Sieh mal", sagte Avery, "hast du dich denn nie gefragt, warum wir alle miteinander verwandt sind. Beziehungsweise hast du dir nie Gedanken darüber gemacht, was das bedeutet?"
Severus schüttelte stumm den Kopf.
"Das sind wir nämlich", bestätigte Jugson heftig nickend. "Wir sind alle mit einander verwand.
"Sogar mehrmals", warf Johnathan Wilkes ein.
"Mehrmals?" Severus zweifelte noch immer an ihrer Aufrichtigkeit.
"Reines Blut", sagte Avery. "So viele Reinblüter gibt es nicht mehr, in England. Wenn du keine Halbblüter und keine Muggelgeborene heiraten darfst, geschweige denn Muggel, wer bleibt dann noch übrig?"
"Die liebe Familie." Evan Rosier zwinkerte Severus zu und ging an ihm vorbei zur Tür. "Ich habe Hunger, kommt jemand mit?"
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Kurze Zeit später hatte die gleiche monströse Hauselfe sie hinunter in einen Speisesaal geführt. Es war ein langgezogener Raum mit einem großen Tisch in der Mitte und hohen Decken, der die Bezeichnung 'Saal" mehr als nur verdiente. Nach einem üppigen Abendessen, welchem der Tafel in Hogwarts kaum nachstand, hatten sie sich getrennt und waren in ihre Zimmer gegangen.
Severus überlegte gerade, ob er sich im richtigen Korridor befand, als er laute Stimmen vernahm.
Bereits nach wenigen Augenblicken wurde Severus klar, dass dieses Gespräch weder für seine, noch für irgendjemand anderes Ohren bestimmt war. Aus Angst, seine Schritte könnten ihn verraten blieb er stehen. Sein Gesicht wurde heiß, während er versuchte, so wenig wie möglich zu Atmen, um ja nicht entdeckt zu werden.
"Ich werde nicht gehen." Mühelos erkannte er Lucius. In seinen sonst so beherrschten, wohlmodulierten Tonfall hatte sich eine deutliche Härte gemischt.
"Über das Thema sind wir hinaus, Lucius. Ich habe bereits alles mit Elmer besprochen, er erwartet dich Anfang nächsten Monat."
Severus hörte Lucius leise aufseufzen. "Nein, Vater", sagte er und es klang schwer danach als würde er sich nur mit Mühe zurück halten können. "Nein, ich bleibe hier in England."
"Sei kein Narr …"
"Ich bin kein Narr", fiel Lucius seinem Vater scharf ins Wort. "Ich bin vor allen Dingen einunzwanzig Jahre alt und kann meine eigenen Entscheidungen treffen."
"Ich habe nie das Gegenteil behauptet, ich denke nur …"
"Und ich sage du kannst dir diese Sorgen sparen, Vater. Du erkennst meine Entscheidungen vielleicht an, manchmal, vor allem wenn sie mit deinen übereinstimmen", er holte kurz Luft, "aber du respektierst sie nicht!"
"Das ist nicht wahr. Du bist volljährig Lucius, du bist mein einziger Sohn und mein Erbe und ich weiß, dass es an der Zeit ist dich gehen zu lassen. Ich respektiere deine Entscheidungen und Taten, aber bedenke auch, dass ich dir einige Jahre an Erfahrung voraus bin und ich dir gewisse Fehler, die…"
Lucius lachte kurz auf. "Ich mache keine Fehler. Du lässt mich ja nichts tun. Wie kann ich denn Fehler machen, wenn du mich nicht für fünf Minuten aus den Augen lässt."
"Ich lasse dich immer aus den Augen", entgegnete Abraxas Malfoy trocken.
"Du weißt, was ich meine."
"Mäßige deine Art, Lucius. Dein Temperament sollte niemals an die Öffentlichkeit gelangen."
Zuerst dachte Severus, Lucius würde seinem Vater eine scharfe Erwiderung entgegen schleudern, doch der junge Malfoy schien sich tatsächlich zu beherrschen.
"Er ist keine Zukunft für dich oder diese Familie." Es war Abraxas, der sprach.
"Keine, die du sehen willst", konterte Lucius sofort.
"Ich sehe mehr als du glaubst, Junge. Es gibt andere, die weit mehr mit Blindheit geschlagen sind als ich es bin."
"Ein Vergnügen, in das ich bald kommen werde, nicht wahr?" In Lucius Worten lag Bitterkeit.
Abraxas ging nicht darauf ein. "Ein Vergnügen, dass du schneller erfahren wirst als uns beiden lieb ist, wenn du nicht endlich beginnst klar zu sehen."
"Ich sehe klar, Vater. Ich SEHE!"
"Spar dir deine Hiebe, selbst deine Mutter ist besser darin."
Severus hörte Schritte, er wich hastig zurück. "Es ist zu spät", hörte er Lucius, der nun gleich hinter der Tür zu stehen schien.
"Bei Merlin, noch nicht, wir können …"
"Für mich ist es zu spät, Vater." Lucius Stimme entfernte sich wieder.
Die darauf folgende Stille machte Severus nervös.
"Wie konntest du das tun." Abraxas sprach schließlich, so leise, dass Severus ihn kaum hören konnte. Trotzdem zog sich sein Magen zusammen. Abraxas klang zutiefst verletzt. Severus schlechtes Gewissen schlug zu. Ein Abraxas Malfoy wollte sicherlich nicht, dass ein Fünftklässler, ein Halbblut, eine solche Schwäche mitbekam.
"Wie hätte ich es nicht tun können? Wie hätte ich es mit meinem Gewissen, mit meiner Verantwortung gegenüber meinem Volk nicht tun können?" Lucius Worte sprühten vor Tatendrang, Stolz und Anklage.
"Geh." Nicht mehr. Nur dieses eine Wort.
"Deine Sturheit sucht ihresgleichen, Vater."
"Geh."
Kurz bevor Lucius den Raum verließ, sprach Abraxas erneut.
"Du hast mich heute zutiefst enttäuscht, Junge. Und ich hoffe für dich, dass du eines Tages nicht den Preis zahlen musst, den ich dir Prophezeit habe. Ich hoffe, dass du den Schmerz nie fühlen musst, den du mir gerade zufügst", sagte er leise.
Severus trafen die Worte mitten ins Herz. Seinem eigenen Vater bedeutete er nicht einmal so viel, als dass dieser wegen irgend etwas hätte enttäuscht sein können.
Lucius hingegen lachte. "Hast du wieder heimlich in Mutters Liebesromanen geschmökert?", spottete er. "Du hast mich enttäuscht, Vater. Du hast mich enttäuscht und hoffe lieber, dass ich dir eines Tages vergebe!"
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, gerade als Severus sich mit einem Hechtsprung hinter eine alte Rüstung gerettet hatte. Zu seinem Glück rauchte Lucius noch immer vor Zorn und jagte mit großen Schritten vorbei, ohne einen Blick nach Links oder Rechts zu vergeuden.
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Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Severus sein Zimmer fand. Der kleine Spaziergang tat ihm gut, sodass er sich keine besondere Mühe gab auf den Weg zu achten. Im Nachhinein fiel ihm auf, dass er mindestens drei Mal daran vorbei gegangen sein musste. Severus hatte sich umgezogen, stand nun vor seinem Bett und hob gerade die Decke an, um darunter zu kriechen, als es klopfte.
Die ganze Zeit über hatte er außer seinen Schulkameraden niemandem gesehen. Weder beim Essen noch auf den Fluren. Daher ging er davon aus, dass es wahrscheinlich Wilkes oder Jugson war. Oder Avery.
Ohne darüber nachzudenken riss er daher die Tür auf. "Was ist …" los, wollte er fragen, brach jedoch ab. Vor ihm stand Lucius Malfoy. Er trug einen schlichten, schwarzen Umhang. In der Hand hielt er einen Pergamentbogen. Er wirke vollkommen ruhig, keine Spur des Streits zeichnete sich auf seinen glatten Zügen ab. Severus war, als blickte er auf eine Maske.
"Das ist deine." Es war keine Frage.
Severus fühlte sich überrumpelt. Verwirrt fragte er sich, ob es nicht höflich wäre den Älteren erst eimal zu begrüßen. Statt dessen sagte er nur: "Ja … Sir", fügte er nach kurzem Zögern hinzu.
"Was ist das?"
"Meine Einkaufsliste für morgen, Sir. Zutaten für den Unterricht im Brauen von Zaubertränken, Sir."
"Du bist im fünften Jahr."
"Sir?"
"Nun, ich kann mich nicht daran erinnern, dass es uns im fünften Jahr erlaubt war Tränke zu brauen, welche Zutaten wie etwa", er hob das Pergament etwas an, als bräuchte er mehr Licht um die Schrift zu entziffern, " wie etwa das konzentrierte Gift aus dem Stachel eines Mantikors, oder feucht gepresstes Minotaurushorn verlangen."
"Ich …", Severus dachte fieberhaft über eine Antwort nach. Dass er zusammen mit Lily Evans, die zudem noch eine Muggelgeborenen war, halblegale Experimente in den Kerkern veranstaltete, konnte er Lucius Malfoy nun wirklich nicht erzählen. So sehr er den Älteren auch schätze und so sehr er ihm in anderen Dingen in ihrer gemeinsamen Schulzeit vertraute hatte. Zumal dessen Vater noch immer im Vorstand des Schulelternbeirates war und Professor Slughorn würde sicherlich Ärger bekommen, auch wenn er im Grunde genommen keine Ahnung hatte, was seine beiden Schützlinge in seinen Kerkern zu treiben gedachten.
"Professor Slughorn ist ein guter Freund von meinem Vater."
Severus trat der Schweiß auf die Stirn. "Ich …", stammelte er abermals, brachte jedoch noch immer keine vernünftige Antwort zustande.
"Er spricht in den höchsten Tönen von dir." Lucius Malfoy ließ das Pergament sinken und schenkte Severus als erster und einziger Mensch, seit dieser das Manor betreten hatte, seine volle Aufmerksamkeit.
Das brachte Severus vollends aus dem Konzept. Verblüfft richtete er sich auf: "Sir?"
'Verdammt. Reiß dich endlich zusammen und antworte mit ganzen Sätzen. Sätze, die vor allen Dingen die drei-Wörter-Grenze überschreiten', stauchte ihn eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf zusammen.
"Ja, in der Tat, das tut er. Professor Slughorn ist sogar der Meinung, dass er noch keinen Schüler hatte, der ein solch außerordentliches Talent auf diesem Gebiet besitzt, wie du."
Gegen seine sonstige Natur spürte Severus Hitze in seinem Kopf aufsteigen. Seine Wangen bekamen einen zart rosafarbenen Hauch.
"Lässt er dich Zutaten besorgen?", fragte Lucius und rollte dabei den Bogen wieder zusammen, ließ sein Gegenüber jedoch nicht aus dem Augen.
Severus nickte. Natürlich, die Zutaten auf der Liste waren für Professor Slughorn. Auf diese Ausrede hätte er eigentlich selbst kommen müssen. Er wollte eben jenes gerade bestätigen, als er er inne hielt. Irgend etwas in Malfoys Blick, in der Art, wie der Ältere ihn plötzlich musterte, ließ ihn die Worte sagen, die er eigentlich hatte verschweigen wollen: "Ja, Professor Slughorn hat mir die Erlaubnis erteilt diese Zutaten zu besorgen. Er lässt … mich ab und zu allein in die Kerker, damit … ich ein wenig experimentieren kann."
Statt mich und ich hätte es natürlich uns und wir heißen müssen. Slughorn erlaubte es ihm und Lily die Kerker außerhalb des Unterrichts zu nutzen. Doch Lilys Gesicht mit dem mahnenden Blick verschwamm immer mehr vor seinem inneren Auge unter Lucius' forschendem Blick, wurde tiefer und tiefer in seine Gedanken verbannt.
"Experimente?"
"Ja. Nichts großartiges, wi … ich … forsche nur ein wenig." Severus biss sich auf die Zunge. Nun ging er zu weit.
"Interessant. Und was genau ist das Ziel, oder der Zweck dieser Forschungen?" Wie der Slytherin es befürchtet hatte, ließ der Ältere nicht locker.
Severus, nein, schalt ihn nun Lilys Stimme in seinem Kopf. Das ist unser Geheimnis. Wir haben geschworen niemandem davon zu erzählen. Das ist unser Ziel, unser Traum.
"Es ist nicht … es ist nur so ein … ein Gedanke. Eine Idee. Ein … Wunschtraum, nichts Konkretes. Ich bin sicher, dass bei den Experimenten nicht all zu viel herauskommen wird. Nur eine Idee", wiederholte er hastig.
Lily's Idee, um genau zu sein, mischte sich die kleine Stimme wieder ein. Doch sie wurde immer leiser.
"Einen Trank gegen Werwölfe?"
Severus starrte den anderen entsetzt an. Woher wusste er das? Hatte Slughorn etwa doch etwas mitbekommen? Hatte der Professor sie etwa belauscht? Hatte er Abraxas Malfoy davon erzählt? Machten die beiden sich lustig über sie? Wer wusste noch davon? Die Fragen schwirrten in seinem Kopf herum und ihm wurde leicht schwindlig. Severus ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Lucius griff in seine Robe und holte ein weiters Bündel Pergament hervor. Als er sie ins Licht hob, wurde Severus schlecht. Lilys Notizen. Hatte er diese etwa auch offen herumliegen lassen? Wer hatte sie gelesen? Lucius? Sicherlich, sonst würde der Ältere nicht so bohren.
"Für Werwölfe", antwortete Severus und schluckte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte zu seiner großen Erleichterung in Lucius Malfoys Blick keine Spur von Belustigung erkennen. Im Gegenteil, das Interesse des anderen an ihm schien zu wachsen. Das machten Severus Mut. Seine Stimme wurde fester, während er fortfuhr:"Oder gegen … wie man es sehen will. Einen Banntrank. Ein Trank, der den Wolf im Menschen zähmt. Der dem Menschen die Kontrolle zurück gibt."
Lucius Malfoy schwieg eine ganze Weile. Dann nickte er langsam. "Ich bin wahrlich kein Experte, aber ein paar deiner Ideen und Ansätze klingen sehr viel versprechend. Sind das wirklich deine Ideen, oder hat Professor Slughorn daran mitgearbeitet?" Er hob das Pergament so, dass Severus es sehen konnte. Die feinen Haken und Bögen in Lilys Schriftbild gruben sich scharf wie Sicheln in sein Gewissen, als er antwortete.
"Nein. Das sind meine Ideen, Ganz allein meine."
Lucius fixierte ihn ein paar Sekunden lang, dann legte er auch Lilys Notizen auf Severus Sachen. "Eins noch", sagte der Malfoyerbe, die Hand bereits auf der Türklinke.
"Was bedeutet Sectumsempra? Es stand auf einem kleinen Pergamentfetzen", fügte er hinzu, als Severus nicht reagierte.
"Das ist ein Fluch, den ich erfunden habe", antwortete der Slytherin zögernd.
Malfoy starrte ihn an. "So", war alles, was er dazu sagte, bevor er endgültig ging. Severus Snape aber saß in seinem Zimmer und fühlte sich, als habe er gerade seine Seele verkauft.
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Zufrieden zog Lucius die Tür hinter sich zu. Er hatte den Jungen unterschätzt, gar keine Frage. Er musste noch ein wenig gelenkt werden, das jedoch dürfte kein großes Problem darstellen.
"Ein junger Mann deines Standes und deiner Intelligenz sollte es nicht nötig haben zu lauschen", sagte er tadelnd. Hinter seinem Rücken hörte er ein Schnauben.
"Was niemand sieht kann meinem Stand nicht schaden", bemerkte Francis Avery trocken. "Meiner Intelligenz dürfte es nur förderlich sein, nährt sie sich doch von Informationen."
"So spricht ein wahrer Slytherin." Lucius drehte sich um. In seinem Blick lag unverkennbar er Stolz.
Francis reagierte nicht auf das Kompliment. "Wird er kommen?", fragte er stattdessen.
"Er wird kommen", bestätigte Lucius.
"Dein Vater wird nicht begeistert sein", stellte Francis zweifelnd fest.
Lucius ging an ihm vorbei, schlug den Weg zu seinen Räumen ein. "Mein Vater ist nicht begeistert" erwiderte er schlicht. Er warf Francis einen raschen Seitenblick zu.
"Hast du deine Meinung geändert?"
Francis schüttelte den Kopf. "Nein!", sagte er fest. "Nein, ich bleibe dabei."
"Gut."
Sie schwiegen, bis sie in dem Flur angekommen waren, der zu Lucius' Teil des Manors führte. Dort blieben sie stehen.
"Du hast Zweifel?", fragte Lucius.
Francis fuhr sich mir der Zungenspitze über die oberer Zahnreihe. Er kniff die Augen zusammen und starrte hinaus in die Dunkelheit. "Mein Vater mochte ihn nicht."
"Aha. Daher weht der Wind. Nur, überlege dir wohin es deinen Vater gebracht hat, Francis."
Der Junge fuhr herum. "Es war nicht seine Schuld!"
Lucius lächelte nachsichtig. "Beruhige dich. Natürlich war es nicht seine Schuld. Und doch … er hätte ihn beschützen können. Deine Familie, Francis."
"Er kann sie mir nicht wiederbringen."
"Werde nicht unfair. Niemand kann das. Nicht einmal er. Niemand kann deine Familie wieder zum Leben erwecken. Aber jemand sollte dafür bezahlen." Lucius packte den Jungen am Kinn, zwang ihn den Blickkontakt zu halten. "Mehr als einen goldenen Stab, Francis. Mehr als ein Abzeichen und einen Eintrag auf einer Plakette. Der Name des Mörders sollte in Stein gemeißelt werden", er ließ das Kinn los und nahm das Gesicht des Jungen zwischen beide Hände. "Sein Name gehört auf einen Stein, Francis. Unter dem er ewig verrotten wird. Verrotten und vergessen, außer von dir."
"Die Regel …"
"Die Regeln, die Regeln. Vergiss die Regeln, kleiner Bruder. Wenn du dir unsicher bist, dann lass dir helfen. Er wird es tun."
"Ich will es tun! Es ist meine Aufgabe, ich will es tun!"
"Du wirst es auch, du wirst es auch. Immer mit der Ruhe. Nutze deine Möglichkeiten, das ist alles was ich möchte. Nutze die Möglichkeiten und wenn es sich dabei um ein Halbblut handelt. Seine Prüfung, deine Rache. Er ist ein Werkzeug, Francis. Du lenkst ihn, du nutzt ihn. Ein Werkzeug. Du lenkst ihn, du planst, du führst den Plan aus. Doch wenn etwas schief geht …"
"Wird er brechen."
Lucius' Lächeln wurde breiter. Er verstärkte den Griff seiner Hände und zog Francis' Gesicht zu sich heran. Dann gab er ihm einen langen Kuss auf die Stirn. "Guter Junge", sagte er.
Prolog Kapitel 01 Kapitel 02 Kapitel 03 Kapitel 04 Kapitel 05 Kapitel 06 Kapitel 07 Kapitel 8
Fandom: Harry Potter
Genre: Drama
Rating: ab 16 Jahren
Charaktere: Severus Snape; Lily Evans; Rumtreiber; Evan Rosier; Avery; Lucius Malfoy
Inhalt Die Geschichte des Prinzen. Canon!
~
Das Böse bringt die Menschen zusammen.
(Aristoteles)
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Es war eine spontane Entscheidung gewesen, seine Klassenkameraden über Weihnachten zu begleiten; getroffen in der Verwirrung nach der Nacht im Tunnel und unter dem Einfluss von Francis Averys tröstenden Worten. Das Gespräch mit Lily hatte sein Übriges getan.
Denn eigentlich hatte sich Severus zu dem Zeitpunkt, an dem Lily ihn am See getroffen hatte, noch gar nicht entschieden gehabt. In Wirklichkeit hatte Avery ihm zwar das Angebot gemacht, doch Severus hatte nie ernsthaft in Erwägung gezogen es auch anzunehmen. Das erschien ihm zu diesem Zeitpunkt als verfrüht und nicht angebracht. Er hatte es eher als ein weitere Zeichen dafür verbucht, dass er auf dem besten Wege war endlich von seinen Mitschülern akzeptiert zu werden. Außerdem hatte Avery zwar aufrecht geklungen, als er ihm das Angebot gemacht hatte, Severus war sich jedoch ziemlich sicher gewesen, dass der ältere Junge es nur gesagt hatte, weil er niemals davon ausging, dass Severus tatsächlich einwilligen würde.
Genau das hatte dieser, kaum drei Stunde später, jedoch getan. Ohne auch nur noch eine Sekunde darüber nachzudenken war Severus, nach dem kleinen Intermezzo am See, schnurstracks zurück in die Gemeinschaftsräume der Slytherins gegangen, gestürmt war vielleicht das bessere Wort, in welchen Avery zusammen mit Rosier und noch ein paar anderen Schülern aus den oberen Stufen am Feuer saßen. Wäre er nicht zufälligerweise anwesend gewesen, hätte Severus zwar nach ihm gesucht und auf ihn gewartet, doch die Endgültigkeit seines Entschlusses hätte gehörige Risse bekommen. Dann säße er jetzt vielleicht mit Lily zusammen über dicken, staubigen Büchern und Pergamentrollen gebeugt in der Bibliothek oder würde die Nase tief in einen dampfenden Kessle hängen, anstatt in einer protzigen Kutsche mit einem abwesenden Avery und einem ziemlich miesepetrigen Marmaduke Mulciber einem unbekannten Ziel entgegen zu holpern.
Mit von der Partie war außerdem Jonathan Wilkes, der schon beunruhigen lange Zeit den Eindruck vermittelte, als müsse er ziemlich dringend mal wohin. Er saß direkt neben Severus, was diesen dazu veranlasste seinen Reisegefährten genau im Auge zu behalten um, falls sich auch nur die kleinste Regung in Richtung Verlegenheit oder Scham auf dessen Gesicht abzeichnen würde, sich rechtzeitig aus der Gefahrenzone bringen zu können. Außerdem tastete er regelmäßig, wenn auch möglichst unauffällig, die Sitzpolster neben sich nach verräterischen nass-warmen Spuren ab.
Ans andere Ende ihrer Seite saß Edwin Jugson. Er hatte die Füße auf die Polster gestellt, die Beine nahe an den Körper gezogen und seine Arme darum geschlungen. Seine Stirn ruhte auf seinen Knien. Severus nahm an, dass er schlief.
Genau wie Marmaduke Mulciber. Dieser lag schon mehr auf seinem Sitz, als dass er saß. Er hatte den Kopf an das Fenster gelegt, wobei es ihn nicht im Mindesten zu stören schien, dass er dadurch gehörig durchgeschüttelt wurde. Sein Mund stand leicht offen. Zum Glück schnarchte er nicht.
Avery saß Severus gegenüber. Er sah jedoch die ganze Zeit abwesend aus dem Fenster und schien seine Mitreisenden überhaupt nicht wahrzunehmen. Oder wahrnehmen zu wollen.
Fehlte Evan Rosier. Dieser hatte zwischen Mulciber und Avery Platz genommen. Im Gegensatz zu den beiden anderen ließ er Severus nicht aus den Augen. Wenn ihre Blicke sich trafen, was nicht oft geschah, da Severus dies mit aller Kraft zu vermeiden versuchte, schien pure Mordlust in Rosiers Augen aufzublitzen.
Jegliche Farbe war aus dem Gesicht des älteren Slytherins gewichen, als Severus ihnen mitgeteilt hatte, dass er sie begleiten würde. Seit dem hatte Severus Angst vor seinem Mitschüler sich verdoppelt, wenn nicht sogar vervierfacht. Er war sich in der ersten Nacht sicher gewesen, dass er die anderen, wenn überhaupt, zerstückelt und zerschreddert in eine kleine Schachtel gestopft, begleiten würde.
Nichts von all dem war geschehen. Severus Snape, Halbblut und Slytherin erfreute sich bester Gesundheit und war im Begriff sein erstes Weihnachten außerhalb seines Elternhauses und außerhalb Hogwarts zu feiern. Wäre Severus ein romantisches Kind, hätte er vielleicht darüber nachgedacht das dies einer der Schritte auf dem Weg zu einem Erwachsenen, einem eigenständigen Individuum, sein kann.
Vielleicht dachte er auch nicht darüber nach, weil ihm ein völlig anderes Problem seit geschätzten zwölf Kilometern Magenschmerzen bereitete. Severus hatte nämlich ganz vergessen zu fragen bei wem sie die Tage eigentlich verbringen würden. Er wusste nur, dass es ein größeres Fest werden würde; eine Tatsache, die er noch verdrängte. Weder seine Garderobe und seiner Meinung nach besonders sein Äußeres waren dazu geeignet, sich vor mehreren, höchstwahrscheinlich älteren, vor allem jedoch fremden, um nicht zu vergessen durch und durch reinblütigen und adligen Zauberern zu präsentieren.
Als die Kutsche dann endlich eine kiesbedeckte Einfahrt hochkroch und er endlich seine durchgeschüttelten Glieder ausstrecken konnte, war er einfach erst einmal zu froh überhaupt irgendwo angekommen zu sein und wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Es störte ihn nicht einmal, dass Rosier ihn beim Aussteigen heftig anrempelte.
Wildes Hundegebell und Jugson, der sich unter herzhaftem Gähnen eine Tasse Tee wünschte, veranlasste Severus dazu sich umzusehen.
Müde von der Fahrt verschwamm sein Blick leicht vor seinen Augen. Das grau des Steins mischte sich mit dem grau des Winterhimmels und für eine Handvoll Herzschläge war Severus davon überzeugt, dass das Haus vor ihm kein Dach hatte, sondern sich bis ins Unendliche hinaus ins Grau erstreckte.
Ganz so war es natürlich nicht, aber es war, abgesehen von Hogwarts, das größte Haus, dass Severus Snape je in seinem Leben gesehen hatte. Definitiv war es das größte Wohnhaus, dass er je gesehen hatte und, so vermutete er mit leise aufsteigendem Neid im Herzen, jemals sehen würde. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um den Dachgiebel erkennen zu können. Viel Zeit zur Begutachtung blieb ihm nicht. Es war kalt, die anderen drängten ins Innere und zogen ihn mit sich. Aber bevor er sich ganz abwandte und seine Aufmerksamkeit auf die Doppeltür lenkte, aus dem nun der Kopf eines Hauself lugte, sah er deutlich eine Gestalt an einem der oberen Fenster stehen. Als er noch einmal hinsah, um sich zu vergewissern, war sie jedoch schon wieder verschwunden.
Noch während sich das Eingangsportal hinter der kleinen Schülergruppe schloss hörte Severus draußen in der Ferne ein dunkles Grollen. Es war später Nachmittag, der Horizont färbte sich durch das heranziehende Gewitter schwarz. Die Eingangshalle lag schon jetzt in düsterem Halbschatten und obwohl Severus im Zwielicht an den Wänden einige Kerzenleuchter ausmachen konnte brannte nirgendwo Licht. Überraschenderweise war es angenehm warm. Blinzelnd versuchte er ein paar Umrisse seiner Umgebung auszumachen, als ihn plötzlich etwas heftig in die Seite stieß. Gerade als er protestieren wollte fing er Jugsons Blick auf. Dieser zeigte an Severus vorbei tiefer in den Schatten hinein. Severus drehte sich herum. Er konnte nun das Ende einer Treppe ausmachen, auf welcher eine große, in dunkle Roben gekleidete Gestalt erschienen war.
"Die jungen Mister Avery, Mister Rosier, Mister Jugson, Mister Mulciber und Mister Wilkes sind eingetroffen, Master Malfoy Sir." Eine, nach Severus Befinden etwas zu groß geratene, Hauselfe war vor der kleinen Gruppe erschienen. Ihre spitzen Ohren zitterten beim Reden, außerdem sprach sie ungewöhnlich laut.
'Malfoy Manor', schoss es Severus durch den Kopf. 'Wer hätte das gedacht, dass ich hier einmal zu Besuch sein werde.' In seiner Nervosität mischte sich zaghafte, aber dennoch wohltuende Erleichterung. Wenn er sich gerade tatsächlich auf Malfoy Manor befand, dann bedeutete es, dass auch Lucius Malfoy anwesend sein würde. Immerhin eine Person mehr, die Severus kannte und mochte. Auch wenn ein böses Stimmchen ihn fragte, warum sich jemand wie Lucius noch an einen mageren Zweitklässler erinnern sollte. Den er drei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Der noch dazu ein Halbblut war. 'Halt die Klappe', schalt er sich selbst und die Stimme verstummte.
Seine Mitschüler wünschten dem Hausherrn brav einen guten Abend, einer nach dem anderen. In Gedanken versunken hinkte Severus ein wenig hinterher und nuschelte hastig ebenfalls irgend etwas Begrüßendes. Der Hausherr, es musste sich um Lucius' Vater handeln, der gerade im Begriff gewesen war die verbleibenden Stufen hinab zu steigen, hielt inne. In der rechten Hand hielt er eine Art Gehstock mit silbernem Knauf. Das Ende schwebte verharrend in der Luft. Severus spürte, wie der Hausherr ihn anstarrte, als warte er auf eine Erklärung. Francis Avery trat vor.
"Das ist Severus Snape, Sir. Er ist im fünften Jahrgang, ein Slytherin. Ich … habe mir die Freiheit erlaubt ihn ebenfalls einzuladen, Sir. " Er senkte demütig den Kopf.
Mr Malfoy hielt noch einige Herzschläge lang inne, dann senkte sich der Fuß seines Stockes auf die nächste Treppenstufe. "Snape?", fragte er.
Avery warf Severus einen kurzen Seitenblick zu und Severus ahnte, was nun kam. Sein Körper versteifte sich.
"Seine Mutter ist Eileen Prince", sagte Avery.
Severus stieg das Blut ins Gesicht. Der Hausherr jedoch nahm diese Information kommentarlos auf. Ohne einen aus der Gruppe noch einmal anzusehen setzte er endlich seinen Stock auf die unterste Stufe, betrat den Hallenboden und schritt an ihnen vorbei, den Gehstock lauernd über dem Boden pendelnd, auf eine breite Flügeltür zu, welche sich lautlos öffnete und ihren Herren mit herausdrängender, tiefer Dunkelheit verschlang.
"Wer heiratet?"
Zwei Stunden später hatten sich alle in Rosiers Zimmer versammelt. Jeder einzelne hatte seinen eigenen Raum bekommen, nur das Bad mussten sie sich teilen. Es lag am Ende des Flurs. Avery stand am Fenster, Rosier, Jugson und Mulciber lümmelten auf dem Bett. Wilkes saß am Fußende und Severus hatte sich, nachdem er mehrere Minuten unschlüssig und regungslos wie eine Statue mitten im Zimmer gestanden hatte, in einen dunkelroten Sessel gesetzt. Auf die Kante, mit geradem Rücken und fest aufgestellten Beinen.
Alle hatten sie bereits ihre Sachen verstaut und die Zimmer erkundet. Severus war als erster damit fertig gewesen. Er hatte eine Stunde lang auf dem viel zu großen Bett gesessen und sich vor lauter Angst etwas von dem teuren Interieur zu beschmutzen oder gar kaputt zu machen kaum zu rühren gewagt. Johnathan hatte bei ihm geklopft und ihn mit zu Evan geschleppt.
"Wer heiratet?", fragte Jugson erneut.
"Bellatrix Black und Rodolphus Lestrange." Evan Rosier schob sich ein Kissen unter den Kopf.
"So? Ich wusste gar nicht, dass die beiden sich so mögen. In der Schule hatten sie doch nicht wirklich etwas mit einander zu tun. Zumindest nicht so. Also auf der ich-will-dich-später-mal-heiraten- Ebene."
"Seit wann geht's beim Heiraten denn ums mögen?" Rosier grinste schief.
"Mein Dad sagt, sie soll möglichst früh werfen können. Wenn schon der Name ausstirbt, dann sollen doch wenigstens die Gene erhalten bleiben", mischte Johnathan sich nun ein. Daraufhin herrschte einige Zeit Stille.
"Kapier ich nicht", brummte Mulciber.
"Na, außer Regulus haben die Blacks doch nur Mädchen. Von diesem Idioten in Gryffindor mal abgesehen, aber der gehört ja schon seit Jahren nicht mehr zur Familie."
"Kann sie denn schon werfen?", fragte Wilkes.
Evan verdrehte die Augen. "Klar kann sie. Sie ist 20. Meine Mum war 17, als sie mich bekommen hat, 17 einhalb."
"Da hätte deine Mum sich lieber noch etwas Zeit gelassen, was? Autsch!" Rosier hatte Mulciber eines der Zierkissen ins Gesicht geschleudert. Bei der darauf folgenden Kabbelei auf dem Bett zog sich Severus weiter in seinen Sessel zurück. Die Kissenschlacht rückte in seiner Wahrnehmung bald in den Hintergrund. Nachdenklich betrachtete er Francis' Rücken. Der andere Junge hatte sich wieder einmal ausgeklinkt und starrte in die Nacht hinaus. Draußen grollte weiterhin der Donner, doch das Gewitter schien vorüber zu ziehen.
"Ich glaube, es gibt bald Abendessen. Die Hauselfen sind die besten hier. Du wirst das Essen lieben", sagte er plötzlich. Severus war sich im ersten Moment unsicher, zu wem er sprach.
"Ja", sagte Francis und wandte sich von den Regenschlieren ab. Er betrachtete nachdenklich Severus Gesicht.
"Ja, was?", fragte dieser verwirrt.
"Abraxas Malfoy ist blind."
"Wieso ..?"
Avery schmunzelte. "Das wolltest du mich doch fragen."
Severus starrte ihn an. "Schon", sagte er, nach einer gefühlten Ewigkeit. "Warum?", setzte er nach einer weiteren Denkpause hinzu und kam sich ziemlich dämlich dabei vor. Er konnte nicht feststellen, ob Averys Lächeln nachsichtig war, oder ob der andere sich gerade über ihn lustig machte.
"Warum, was?", fragte Avery oder äffte er ihn nach?
"Warum ist er blind?", wiederholte Severus.
Avery nickte. "Gute Frage", sagte er und winkte Rosier zu sich heran. Dieser schob sich gerade einen Kürbiskernkeks in den Mund. Er grinste breit.
"Evan, Severus möchte gerne wissen, warum Abraxas Malfoy blind ist."
Rosier kaute genüsslich seinen Keks zu Ende und grinste dabei Severus die ganze Zeit an. Während er schluckte hob er die Hand, klemmte den kleinen Finger und den Ringfinger mit dem Daumen auf die Handinnenfläche und spreizte den Zeigefinger und den Mittelfinger weit ab, sodass sie ein V bildeten.
"Ein hoch auf die Inzucht", strahlte er.
Severus starrte die beiden an. "Wie bitte?"
Avery lachte. "Ein Hoch auf die Inzucht", bestätigte er. "Die verdammte, beschissene Inzucht."
"Verdammtes Inzuchtpack", kam es von Mulciber auf dem Bett.
Auch Wilkes und Jugson grinsten nun, als hätte jemand einen besonders guten Witz gemacht.
Severus fühlte sich verarscht. Er presste die Lippen zusammen und sah vor sich auf den Boden. Wenn sie ihn nur mitgenommen hatten, um sich über ihn lustig zu machen …
"Entschuldige", Avery wurde wieder ernst. "Reinblütiger Galgenhumor, bitte entschuldige."
Severus blickte ihn zornig an. "Schon gut", fauchte er. "Ich weiß, dass ich ein Halbblut bin. Ich weiß, dass ich nicht dazu gehöre. Ich habe keine Ahnung, von euren Scherzen." Er wandte sich zum Gehen.
Francis trat ihm in den Weg. Er schien ehrlich bestürzt.
"So war es nicht gemeint."
Auch Eddie Jugson sprang nun auf. "Wir wollten uns nicht lustig machen. Das heißt, schon … aber nicht über dich!", setzte er hastig hinzu.
"Sieh mal", sagte Avery, "hast du dich denn nie gefragt, warum wir alle miteinander verwandt sind. Beziehungsweise hast du dir nie Gedanken darüber gemacht, was das bedeutet?"
Severus schüttelte stumm den Kopf.
"Das sind wir nämlich", bestätigte Jugson heftig nickend. "Wir sind alle mit einander verwand.
"Sogar mehrmals", warf Johnathan Wilkes ein.
"Mehrmals?" Severus zweifelte noch immer an ihrer Aufrichtigkeit.
"Reines Blut", sagte Avery. "So viele Reinblüter gibt es nicht mehr, in England. Wenn du keine Halbblüter und keine Muggelgeborene heiraten darfst, geschweige denn Muggel, wer bleibt dann noch übrig?"
"Die liebe Familie." Evan Rosier zwinkerte Severus zu und ging an ihm vorbei zur Tür. "Ich habe Hunger, kommt jemand mit?"
Kurze Zeit später hatte die gleiche monströse Hauselfe sie hinunter in einen Speisesaal geführt. Es war ein langgezogener Raum mit einem großen Tisch in der Mitte und hohen Decken, der die Bezeichnung 'Saal" mehr als nur verdiente. Nach einem üppigen Abendessen, welchem der Tafel in Hogwarts kaum nachstand, hatten sie sich getrennt und waren in ihre Zimmer gegangen.
Severus überlegte gerade, ob er sich im richtigen Korridor befand, als er laute Stimmen vernahm.
Bereits nach wenigen Augenblicken wurde Severus klar, dass dieses Gespräch weder für seine, noch für irgendjemand anderes Ohren bestimmt war. Aus Angst, seine Schritte könnten ihn verraten blieb er stehen. Sein Gesicht wurde heiß, während er versuchte, so wenig wie möglich zu Atmen, um ja nicht entdeckt zu werden.
"Ich werde nicht gehen." Mühelos erkannte er Lucius. In seinen sonst so beherrschten, wohlmodulierten Tonfall hatte sich eine deutliche Härte gemischt.
"Über das Thema sind wir hinaus, Lucius. Ich habe bereits alles mit Elmer besprochen, er erwartet dich Anfang nächsten Monat."
Severus hörte Lucius leise aufseufzen. "Nein, Vater", sagte er und es klang schwer danach als würde er sich nur mit Mühe zurück halten können. "Nein, ich bleibe hier in England."
"Sei kein Narr …"
"Ich bin kein Narr", fiel Lucius seinem Vater scharf ins Wort. "Ich bin vor allen Dingen einunzwanzig Jahre alt und kann meine eigenen Entscheidungen treffen."
"Ich habe nie das Gegenteil behauptet, ich denke nur …"
"Und ich sage du kannst dir diese Sorgen sparen, Vater. Du erkennst meine Entscheidungen vielleicht an, manchmal, vor allem wenn sie mit deinen übereinstimmen", er holte kurz Luft, "aber du respektierst sie nicht!"
"Das ist nicht wahr. Du bist volljährig Lucius, du bist mein einziger Sohn und mein Erbe und ich weiß, dass es an der Zeit ist dich gehen zu lassen. Ich respektiere deine Entscheidungen und Taten, aber bedenke auch, dass ich dir einige Jahre an Erfahrung voraus bin und ich dir gewisse Fehler, die…"
Lucius lachte kurz auf. "Ich mache keine Fehler. Du lässt mich ja nichts tun. Wie kann ich denn Fehler machen, wenn du mich nicht für fünf Minuten aus den Augen lässt."
"Ich lasse dich immer aus den Augen", entgegnete Abraxas Malfoy trocken.
"Du weißt, was ich meine."
"Mäßige deine Art, Lucius. Dein Temperament sollte niemals an die Öffentlichkeit gelangen."
Zuerst dachte Severus, Lucius würde seinem Vater eine scharfe Erwiderung entgegen schleudern, doch der junge Malfoy schien sich tatsächlich zu beherrschen.
"Er ist keine Zukunft für dich oder diese Familie." Es war Abraxas, der sprach.
"Keine, die du sehen willst", konterte Lucius sofort.
"Ich sehe mehr als du glaubst, Junge. Es gibt andere, die weit mehr mit Blindheit geschlagen sind als ich es bin."
"Ein Vergnügen, in das ich bald kommen werde, nicht wahr?" In Lucius Worten lag Bitterkeit.
Abraxas ging nicht darauf ein. "Ein Vergnügen, dass du schneller erfahren wirst als uns beiden lieb ist, wenn du nicht endlich beginnst klar zu sehen."
"Ich sehe klar, Vater. Ich SEHE!"
"Spar dir deine Hiebe, selbst deine Mutter ist besser darin."
Severus hörte Schritte, er wich hastig zurück. "Es ist zu spät", hörte er Lucius, der nun gleich hinter der Tür zu stehen schien.
"Bei Merlin, noch nicht, wir können …"
"Für mich ist es zu spät, Vater." Lucius Stimme entfernte sich wieder.
Die darauf folgende Stille machte Severus nervös.
"Wie konntest du das tun." Abraxas sprach schließlich, so leise, dass Severus ihn kaum hören konnte. Trotzdem zog sich sein Magen zusammen. Abraxas klang zutiefst verletzt. Severus schlechtes Gewissen schlug zu. Ein Abraxas Malfoy wollte sicherlich nicht, dass ein Fünftklässler, ein Halbblut, eine solche Schwäche mitbekam.
"Wie hätte ich es nicht tun können? Wie hätte ich es mit meinem Gewissen, mit meiner Verantwortung gegenüber meinem Volk nicht tun können?" Lucius Worte sprühten vor Tatendrang, Stolz und Anklage.
"Geh." Nicht mehr. Nur dieses eine Wort.
"Deine Sturheit sucht ihresgleichen, Vater."
"Geh."
Kurz bevor Lucius den Raum verließ, sprach Abraxas erneut.
"Du hast mich heute zutiefst enttäuscht, Junge. Und ich hoffe für dich, dass du eines Tages nicht den Preis zahlen musst, den ich dir Prophezeit habe. Ich hoffe, dass du den Schmerz nie fühlen musst, den du mir gerade zufügst", sagte er leise.
Severus trafen die Worte mitten ins Herz. Seinem eigenen Vater bedeutete er nicht einmal so viel, als dass dieser wegen irgend etwas hätte enttäuscht sein können.
Lucius hingegen lachte. "Hast du wieder heimlich in Mutters Liebesromanen geschmökert?", spottete er. "Du hast mich enttäuscht, Vater. Du hast mich enttäuscht und hoffe lieber, dass ich dir eines Tages vergebe!"
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, gerade als Severus sich mit einem Hechtsprung hinter eine alte Rüstung gerettet hatte. Zu seinem Glück rauchte Lucius noch immer vor Zorn und jagte mit großen Schritten vorbei, ohne einen Blick nach Links oder Rechts zu vergeuden.
Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Severus sein Zimmer fand. Der kleine Spaziergang tat ihm gut, sodass er sich keine besondere Mühe gab auf den Weg zu achten. Im Nachhinein fiel ihm auf, dass er mindestens drei Mal daran vorbei gegangen sein musste. Severus hatte sich umgezogen, stand nun vor seinem Bett und hob gerade die Decke an, um darunter zu kriechen, als es klopfte.
Die ganze Zeit über hatte er außer seinen Schulkameraden niemandem gesehen. Weder beim Essen noch auf den Fluren. Daher ging er davon aus, dass es wahrscheinlich Wilkes oder Jugson war. Oder Avery.
Ohne darüber nachzudenken riss er daher die Tür auf. "Was ist …" los, wollte er fragen, brach jedoch ab. Vor ihm stand Lucius Malfoy. Er trug einen schlichten, schwarzen Umhang. In der Hand hielt er einen Pergamentbogen. Er wirke vollkommen ruhig, keine Spur des Streits zeichnete sich auf seinen glatten Zügen ab. Severus war, als blickte er auf eine Maske.
"Das ist deine." Es war keine Frage.
Severus fühlte sich überrumpelt. Verwirrt fragte er sich, ob es nicht höflich wäre den Älteren erst eimal zu begrüßen. Statt dessen sagte er nur: "Ja … Sir", fügte er nach kurzem Zögern hinzu.
"Was ist das?"
"Meine Einkaufsliste für morgen, Sir. Zutaten für den Unterricht im Brauen von Zaubertränken, Sir."
"Du bist im fünften Jahr."
"Sir?"
"Nun, ich kann mich nicht daran erinnern, dass es uns im fünften Jahr erlaubt war Tränke zu brauen, welche Zutaten wie etwa", er hob das Pergament etwas an, als bräuchte er mehr Licht um die Schrift zu entziffern, " wie etwa das konzentrierte Gift aus dem Stachel eines Mantikors, oder feucht gepresstes Minotaurushorn verlangen."
"Ich …", Severus dachte fieberhaft über eine Antwort nach. Dass er zusammen mit Lily Evans, die zudem noch eine Muggelgeborenen war, halblegale Experimente in den Kerkern veranstaltete, konnte er Lucius Malfoy nun wirklich nicht erzählen. So sehr er den Älteren auch schätze und so sehr er ihm in anderen Dingen in ihrer gemeinsamen Schulzeit vertraute hatte. Zumal dessen Vater noch immer im Vorstand des Schulelternbeirates war und Professor Slughorn würde sicherlich Ärger bekommen, auch wenn er im Grunde genommen keine Ahnung hatte, was seine beiden Schützlinge in seinen Kerkern zu treiben gedachten.
"Professor Slughorn ist ein guter Freund von meinem Vater."
Severus trat der Schweiß auf die Stirn. "Ich …", stammelte er abermals, brachte jedoch noch immer keine vernünftige Antwort zustande.
"Er spricht in den höchsten Tönen von dir." Lucius Malfoy ließ das Pergament sinken und schenkte Severus als erster und einziger Mensch, seit dieser das Manor betreten hatte, seine volle Aufmerksamkeit.
Das brachte Severus vollends aus dem Konzept. Verblüfft richtete er sich auf: "Sir?"
'Verdammt. Reiß dich endlich zusammen und antworte mit ganzen Sätzen. Sätze, die vor allen Dingen die drei-Wörter-Grenze überschreiten', stauchte ihn eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf zusammen.
"Ja, in der Tat, das tut er. Professor Slughorn ist sogar der Meinung, dass er noch keinen Schüler hatte, der ein solch außerordentliches Talent auf diesem Gebiet besitzt, wie du."
Gegen seine sonstige Natur spürte Severus Hitze in seinem Kopf aufsteigen. Seine Wangen bekamen einen zart rosafarbenen Hauch.
"Lässt er dich Zutaten besorgen?", fragte Lucius und rollte dabei den Bogen wieder zusammen, ließ sein Gegenüber jedoch nicht aus dem Augen.
Severus nickte. Natürlich, die Zutaten auf der Liste waren für Professor Slughorn. Auf diese Ausrede hätte er eigentlich selbst kommen müssen. Er wollte eben jenes gerade bestätigen, als er er inne hielt. Irgend etwas in Malfoys Blick, in der Art, wie der Ältere ihn plötzlich musterte, ließ ihn die Worte sagen, die er eigentlich hatte verschweigen wollen: "Ja, Professor Slughorn hat mir die Erlaubnis erteilt diese Zutaten zu besorgen. Er lässt … mich ab und zu allein in die Kerker, damit … ich ein wenig experimentieren kann."
Statt mich und ich hätte es natürlich uns und wir heißen müssen. Slughorn erlaubte es ihm und Lily die Kerker außerhalb des Unterrichts zu nutzen. Doch Lilys Gesicht mit dem mahnenden Blick verschwamm immer mehr vor seinem inneren Auge unter Lucius' forschendem Blick, wurde tiefer und tiefer in seine Gedanken verbannt.
"Experimente?"
"Ja. Nichts großartiges, wi … ich … forsche nur ein wenig." Severus biss sich auf die Zunge. Nun ging er zu weit.
"Interessant. Und was genau ist das Ziel, oder der Zweck dieser Forschungen?" Wie der Slytherin es befürchtet hatte, ließ der Ältere nicht locker.
Severus, nein, schalt ihn nun Lilys Stimme in seinem Kopf. Das ist unser Geheimnis. Wir haben geschworen niemandem davon zu erzählen. Das ist unser Ziel, unser Traum.
"Es ist nicht … es ist nur so ein … ein Gedanke. Eine Idee. Ein … Wunschtraum, nichts Konkretes. Ich bin sicher, dass bei den Experimenten nicht all zu viel herauskommen wird. Nur eine Idee", wiederholte er hastig.
Lily's Idee, um genau zu sein, mischte sich die kleine Stimme wieder ein. Doch sie wurde immer leiser.
"Einen Trank gegen Werwölfe?"
Severus starrte den anderen entsetzt an. Woher wusste er das? Hatte Slughorn etwa doch etwas mitbekommen? Hatte der Professor sie etwa belauscht? Hatte er Abraxas Malfoy davon erzählt? Machten die beiden sich lustig über sie? Wer wusste noch davon? Die Fragen schwirrten in seinem Kopf herum und ihm wurde leicht schwindlig. Severus ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Lucius griff in seine Robe und holte ein weiters Bündel Pergament hervor. Als er sie ins Licht hob, wurde Severus schlecht. Lilys Notizen. Hatte er diese etwa auch offen herumliegen lassen? Wer hatte sie gelesen? Lucius? Sicherlich, sonst würde der Ältere nicht so bohren.
"Für Werwölfe", antwortete Severus und schluckte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte zu seiner großen Erleichterung in Lucius Malfoys Blick keine Spur von Belustigung erkennen. Im Gegenteil, das Interesse des anderen an ihm schien zu wachsen. Das machten Severus Mut. Seine Stimme wurde fester, während er fortfuhr:"Oder gegen … wie man es sehen will. Einen Banntrank. Ein Trank, der den Wolf im Menschen zähmt. Der dem Menschen die Kontrolle zurück gibt."
Lucius Malfoy schwieg eine ganze Weile. Dann nickte er langsam. "Ich bin wahrlich kein Experte, aber ein paar deiner Ideen und Ansätze klingen sehr viel versprechend. Sind das wirklich deine Ideen, oder hat Professor Slughorn daran mitgearbeitet?" Er hob das Pergament so, dass Severus es sehen konnte. Die feinen Haken und Bögen in Lilys Schriftbild gruben sich scharf wie Sicheln in sein Gewissen, als er antwortete.
"Nein. Das sind meine Ideen, Ganz allein meine."
Lucius fixierte ihn ein paar Sekunden lang, dann legte er auch Lilys Notizen auf Severus Sachen. "Eins noch", sagte der Malfoyerbe, die Hand bereits auf der Türklinke.
"Was bedeutet Sectumsempra? Es stand auf einem kleinen Pergamentfetzen", fügte er hinzu, als Severus nicht reagierte.
"Das ist ein Fluch, den ich erfunden habe", antwortete der Slytherin zögernd.
Malfoy starrte ihn an. "So", war alles, was er dazu sagte, bevor er endgültig ging. Severus Snape aber saß in seinem Zimmer und fühlte sich, als habe er gerade seine Seele verkauft.
Zufrieden zog Lucius die Tür hinter sich zu. Er hatte den Jungen unterschätzt, gar keine Frage. Er musste noch ein wenig gelenkt werden, das jedoch dürfte kein großes Problem darstellen.
"Ein junger Mann deines Standes und deiner Intelligenz sollte es nicht nötig haben zu lauschen", sagte er tadelnd. Hinter seinem Rücken hörte er ein Schnauben.
"Was niemand sieht kann meinem Stand nicht schaden", bemerkte Francis Avery trocken. "Meiner Intelligenz dürfte es nur förderlich sein, nährt sie sich doch von Informationen."
"So spricht ein wahrer Slytherin." Lucius drehte sich um. In seinem Blick lag unverkennbar er Stolz.
Francis reagierte nicht auf das Kompliment. "Wird er kommen?", fragte er stattdessen.
"Er wird kommen", bestätigte Lucius.
"Dein Vater wird nicht begeistert sein", stellte Francis zweifelnd fest.
Lucius ging an ihm vorbei, schlug den Weg zu seinen Räumen ein. "Mein Vater ist nicht begeistert" erwiderte er schlicht. Er warf Francis einen raschen Seitenblick zu.
"Hast du deine Meinung geändert?"
Francis schüttelte den Kopf. "Nein!", sagte er fest. "Nein, ich bleibe dabei."
"Gut."
Sie schwiegen, bis sie in dem Flur angekommen waren, der zu Lucius' Teil des Manors führte. Dort blieben sie stehen.
"Du hast Zweifel?", fragte Lucius.
Francis fuhr sich mir der Zungenspitze über die oberer Zahnreihe. Er kniff die Augen zusammen und starrte hinaus in die Dunkelheit. "Mein Vater mochte ihn nicht."
"Aha. Daher weht der Wind. Nur, überlege dir wohin es deinen Vater gebracht hat, Francis."
Der Junge fuhr herum. "Es war nicht seine Schuld!"
Lucius lächelte nachsichtig. "Beruhige dich. Natürlich war es nicht seine Schuld. Und doch … er hätte ihn beschützen können. Deine Familie, Francis."
"Er kann sie mir nicht wiederbringen."
"Werde nicht unfair. Niemand kann das. Nicht einmal er. Niemand kann deine Familie wieder zum Leben erwecken. Aber jemand sollte dafür bezahlen." Lucius packte den Jungen am Kinn, zwang ihn den Blickkontakt zu halten. "Mehr als einen goldenen Stab, Francis. Mehr als ein Abzeichen und einen Eintrag auf einer Plakette. Der Name des Mörders sollte in Stein gemeißelt werden", er ließ das Kinn los und nahm das Gesicht des Jungen zwischen beide Hände. "Sein Name gehört auf einen Stein, Francis. Unter dem er ewig verrotten wird. Verrotten und vergessen, außer von dir."
"Die Regel …"
"Die Regeln, die Regeln. Vergiss die Regeln, kleiner Bruder. Wenn du dir unsicher bist, dann lass dir helfen. Er wird es tun."
"Ich will es tun! Es ist meine Aufgabe, ich will es tun!"
"Du wirst es auch, du wirst es auch. Immer mit der Ruhe. Nutze deine Möglichkeiten, das ist alles was ich möchte. Nutze die Möglichkeiten und wenn es sich dabei um ein Halbblut handelt. Seine Prüfung, deine Rache. Er ist ein Werkzeug, Francis. Du lenkst ihn, du nutzt ihn. Ein Werkzeug. Du lenkst ihn, du planst, du führst den Plan aus. Doch wenn etwas schief geht …"
"Wird er brechen."
Lucius' Lächeln wurde breiter. Er verstärkte den Griff seiner Hände und zog Francis' Gesicht zu sich heran. Dann gab er ihm einen langen Kuss auf die Stirn. "Guter Junge", sagte er.